Rechtsanwalt Dr. Jens Robbert, Potsdam1
I.
„Die wegen des bei summarischer Prüfung offenen Ausgangs des Hauptverfahrens im einstweiligen Anordnungsverfahren gegen die in § 28b I 1 Nr. 2 IfSG geregelte nächtliche Ausgangsbeschränkung gebotene Folgenabwägung fällt zulasten des Beschwerdeführenden (sicut!) aus, weil die Ziele der Ausgangsbeschränkung angesichts der nach wie vor absolut und relativ hohen Zahl von nachgewiesenen Neuinfektionen, der derzeit als gefährlich be-werteten Virusvarianten, der schweren Krankheitsverläufe und der Todesfälle von größerem Gesicht sind als die Belastungen der von der Ausgangsbeschränkung Betroffenen.“2 So oder ähnlich lauten die wesentlichen Entscheidungsprämissen der deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgerichte zur Rechtmäßigkeit der aktuellen Corona-Freiheitsbeschränkungen. Die Antwort auf die sich stellende verfassungsrechtliche Kernfrage, warum von Verfassungs we-gen in Deutschland die betroffenen Grundrechte der Einwohnerschaft geringwertiger sind als die mit den Maßnahmen verfolgten Ziele der Gefahrenabwehr, begründet die Rechtspre-chung im wesentlichen mit einem Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts zu der aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Satz 1 GG entspringenden Pflicht des Staates, sich schützend vor das Recht auf Le-ben und körperlicher Unversehrtheit der Einwohnerschaft zu stellen.3 So heißt es zum Bei-spiel in einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der Staat sei „wegen seiner nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 2 II 1 GG begründeten Schutzpflicht“ zum Schutz der gefährdeten Menschen vor Infektionen „grund-sätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet“.4 Mit dieser Ab-leitung der staatlichen Schutzpflicht aus dem für die Werteordnung des Grundgesetzes prä-genden Grundrecht des Art. 2 II 1 GG begründet das Bundesverfassungsgericht die überra-gende Wertigkeit der die Eingriffe legitimierenden ordnungsrechtlichen Zwecke im Verhältnis zu den für zulässig erachteten Freiheitsbeschränkungen. Mit diesem Beitrag soll vor dem Hintergrund der staatsphilosophischen Grundlagen, auf welchen auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere dessen Grundrechtsteil beruht, die Pro-blematik des hinter der Begründung des Bundesverfassungsgerichts liegenden Werturteils dargestellt und die Notwendigkeit einer vertieften Begründung bei der Gewichtung der in Re-de stehenden Freiheitsrechte einerseits und der legitimen Schutzinteressen andererseits herausgestellt werden.
II.
1.
Die auf § 28a Infektionsschutzgesetz zurückzuführenden allgemeinen Freiheitsbeschrän-kungen wegen der neuartigen „Corona-Pandemie“ stellen für den an den Grundrechtsteil der Verfassung gebundenen Rechtsanwender die größte verfassungsrechtliche Herausforderung
1 Der Autor ist selbständiger Einzelanwalt mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Verwaltungsrecht. Er arbei-tete zwischen 1991 und 1999 als Justitiar im Rechtsamt des Magistrats der Stadt Potsdam.
2 BVerfG, Beschluß vom 5.5.2021, 1 BvR 781/21 etc.; Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
3 siehe hierzu zum Beispiel: BVerfGE 39,1, 41; NJW 1975, 573; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, 8. Auflage 2020; § 13 RN 18; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2011, 411, 412
4 BVerfG NVwZ 2020, 876 RN 8 2
seit der Inkraftsetzung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 22.5.1949 dar. Alle maßgebenden Entscheidungen der deutschen Verfassungs- und Verwal-tungsgerichte, die seit Inkraftsetzung der mit § 28a Infektionsschutzgesetz in Verbindung stehenden ordnungsrechtlichen Verbote für die Allgemeinheit hierzu ergangen sind, sind nicht überzeugend. Der Leser hat den Eindruck, daß die sehr lapidaren und kurzen Begrün-dungs- und Argumentationsmuster, die in den zitierten gerichtlichen Entscheidungen zur Anwendung kommen und die diese Entscheidungen letztlich tragen sollen, an der Oberflä-che haften bleiben und die verfassungsrechtliche Problematik bisher nicht in den Griff be-kommen haben. Dies entspricht der allgemeinen Orientierungs- und Ratlosigkeit, die auch im Bereich der verantwortlichen Entscheidungsträger in den Parlamenten und Regierungen ob-waltet.5
5 die Zulässigkeit entsprechender – im Ergebnis jahrelang wirksamer – landesrechtlicher Corona-Eindämmungsverordnungen bejahen: VGH München, Beschluß vom 5.3.2021, 20 NE 20.3097, Beck RS 2021, 3800; BayVerfGH, Beschluß vom 17.12.2020, Vf. 110-VII-20, Beck RS 2020, 35808; LSA VerfG, Beschluß vom 2.2.2021, LVG 4/21, Beck RS 2021, 1360; OVG Magdeburg, Beschluß vom 25.2.2021, 3 R 10/21, Beck RS 2021, 6590; OVG Weimar, Beschluß vom 18.2.2021, 3 EN 67/21, Beck RS 2021, 5303; OVG Hamburg, Beschluß vom 21.4.2021, 5 Bs 85/21; OVG Münster, Beschluß vom 22.4.2021, 13 B 610/21; VG Schleswig, Beschluß vom 26.2.2021, 1 B 20/21, Beck RS 2021, 4792
6 siehe die bei FN 5 zitierten Entscheidungen
7 zu den tragenden staatsphilosophischen Grundlagen, von denen die „Väter des Grundgesetzes“ ausgingen: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 3. Auflage 2002, RN 753 bis 757; die Verfasser entnehmen der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ein eindeutiges Bekenntnis zur westeuro-päischen staatsphilosophischen Tradition
8 Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
2.
Sowohl die Verfassungsgerichte als auch die Verwaltungsgerichte stellen zentral ab auf die Figur der Schutzpflicht des Staates, die sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ergeben soll aus Art. 2 I GG („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt-heit“).6 Diese Argumentation greift zu kurz, da sie mit dem westeuropäischen Staats- und Freiheitsverständnis nicht vereinbar ist, auf dem die Grundrechte des Grundrechtsteils des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beruhen und deren Ausdruck sie sind.7
3.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen eine Schutzpflicht des Staates für das Leben und die Gesundheit seiner Staatsbürger auch aus dem Grundrecht des Art. 2 II Satz 1 GG8 abgeleitet. Bereits diese Entscheidungen, die alle in einem gänzlich anderen Zusammenhang stehen, als die heutigen Maßnahmen im Rahmen des § 28a IfSG, sind mit der Grundkonzeption des Grundrechtsteils des Grundgesetzes und der traditionellen westeuropäischen Grundrechtsdogmatik nur bedingt vereinbar. Danach stellen die Grund-rechte Abwehrrechte der Staatsbürger gegen Eingriffe in diese Rechte durch den Staat dar. Der Bürger kann also grundsätzlich jede Beschränkung eines seiner Grundrechte von staat-licher Seite abwehren, sofern diese nicht ausnahmsweise unter den strengen Maßgaben der Verfassung gerechtfertigt sind. Diesem Zweck der Grundrechte widerspricht es grundsätz-lich, ein Grundrecht, im vorliegenden Fall Art. 2 II 1 GG, als Legitimation für staatliche Ein-griffe in Grundrechte zu verwenden. Zwar trifft es zu, daß der Staat verpflichtet ist, die Rechtsordnung und das staatliche Gewaltmonopol notfalls mit Zwang zu schützen und Rechtsverletzer mit allen Mitteln in die Schranken zu weisen, insbesondere Angriffe eines Bürgers auf die Rechtsstellung eines anderen Bürgers zu verhindern und insoweit auch des-sen Leben und Gesundheit vor seinen Mitmenschen zu schützen. Diese Schutzpflicht beruht aber nicht auf Art. 2 II 1 GG. 3
9 in diesem Sinne: Gesetzentwurf zum Vierten Bevölkerungsschutzgesetz, BT-Drs. 19/28 444, 1 und 8
10 BVerfGE 7, 198, 204
Nach der Argumentationslinie des Gesetzgebers (Motive zu § 28a IfSG) und des Bundesver-fassungsgerichts dienen die inzwischen seit bald zwei Jahre geltenden, bekanntlich sehr weitgehenden Freiheitsbeschränkungen aller Menschen dem Schutz desjenigen, prozentual sehr kleinen, Anteils der Bevölkerung, dem im Falle einer möglichen Ansteckung mit über-wiegender Wahrscheinlichkeit ein „schwerwiegender Krankheitsverlauf“ droht. Nach der weitgehend in den Artikeln 1 bis 20 (Grundrechtsteil) GG kodifizierten Werteordnung der Ver-fassung ist aber die Achtung der Freiheitsgrundrechte, die jedem Einwohner der Bundesre-publik als klagbare Rechte zustehen, von größtem staatsrechtlichem Gewicht. Die Entste-hung des Grundrechtsteils des Grundgesetzes geht unmittelbar auf die „Bill of Rights“ von Virginia aus dem Jahre 1776 zurück. In deren Art. 1 heißt es, alle Menschen sind „von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse ihnen innewohnende Rechte, deren Sie, wenn Sie in den Staat einer Gesellschaft eintreten, ihre Nachkommenschaft durch keinen Vertrag berauben oder entkleiden können, nämlich den Genuß von Leben und Frei-heit, mit den Mitteln zum Erwerb von Besitz und Eigentum und zum Streben und der Erlan-gung von Glück und Sicherheit“.
Der Gesetzgeber und die bisherige, weit überwiegende herrschende Rechtsprechung be-gründen die grundrechtliche Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Freiheitsbeschrän-kungen durch § 28a IfSG (Grundrechtseingriffe) mit der aus Art. 2 II 1 GG hervorgehenden Bedeutung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit derjenigen Bevölke-rungsminderheit, der im Ansteckungsfall besondere Gefahren drohen. Der „institutionelle“ Rang des Art. 2 II 1 GG sei verfassungsrechtlich so schwerwiegend, daß er den Staat ver-pflichte, seine Einwohner im allgemeinen und die gefährdete Bevölkerungsgruppe im beson-deren vor Ansteckung zu schützen.9 Die nach der zitierten Rechtsauffassung des Gesetzge-bers im Verhältnis zu den aufgehobenen Freiheitsrechten der Allgemeinheit ausreichend schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedeutung dieser staatlichen Schutzpflicht wird also mit ihrem Hervorgehen aus dem Grundrechtskatalog der Art. 1 bis 20 GG abgeleitet. Im Er-gebnis wird auf diese Weise die weitgehende Aufhebung der Freiheitsrechte mit einer Pflicht des Staates zum Schutz eines dieser Freiheitsrechte begründet, um die „Gleichwertigkeit“ der gegeneinander zum Ausgleich zu bringenden Rechtsgüter (Freiheitsrechte einerseits, Volksgesundheit andererseits) grundrechtsdogmatisch zu begründen.
Die soeben dargelegte Argumentation der zitierten Gesetzesmotive und der diese billigenden Gerichtsentscheidungen ist bereits mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts zur Schutz-Dimension des Art. 2 II 1 GG nicht vereinbar. Das Bundesverfas-sungsgericht hat immer wieder betont, daß die sogenannte „objektiv-rechtliche Funktion“ der Grundrechte, von welcher auch die in Rede stehende Schutzpflicht des Staates abgeleitet wird, eine sekundäre Wirkung der Grundrechte darstellt, die in erster Linie der Verstärkung der subjektiv-rechtlichen, klassischen freiheitssichernden Funktion der Grundrechte zu die-nen hat. Die primäre, klassische Funktion der Grundrechte ist die Abwehr gegen staatliche Einschränkungen in die dem einzelnen zustehenden Freiheitsrechte und Rechtsgüter. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht auch die aus Art. 2 II 1 GG ab-geleitete Schutzpflicht des Staates auf den objektiven Wertentscheidungen, die im Grund-rechtsteil der Verfassung zum Ausdruck kommen und eine objektive Werteordnung verkör-pern. Diese objektiv-rechtliche, „institutionelle“ Seite der Grundrechte soll nach dieser Recht-sprechung aber in erster Linie die subjektiv-rechtliche, Freiheit gewährleistende Bedeutung der Grundrechte verstärken. Aus demselben Gedanken hat das Bundesverfassungsgericht die Abwehrrechte um Verfahrens-, Teilhabe- und Leistungsrechte ergänzt. Immer wieder betont das Bundesverfassungsgericht aber, daß „die Grundrechte in erster Linie Abwehr-rechte des Bürgers gegen den Staat“ sind,10 und verbindet dies mit der Warnung davor, „die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien von dem eigentlichen Kern zu lösen und 4
11 BVerfGE 50, 290, 337
12 BVerfGE 46, 160, 164; BVerfGE 39, 1; BVerfGE 88, 203, 264; siehe auch G.Hermes, Das Grund-recht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Kunigk, Grundrechtlicher Schutz des Lebens, Jura 1991, 415; Zippelius, An den Grenzen des Rechts auf Leben, JuS 1983, 659; weitere Beispiele: Schutz gegen die Gefahren durch Aids, BVerfG NJW 1987, 2287; gegen terroristische Anschläge, BVerfGE 46, 160; gegen atomare Gefahren, BVerfGE 49, 89, 140 ff. – Kalka -; 53, 30, 57 ff. – Mühl-heim-Kärlich; gegen chemische Verseuchung von Luft und Wald, BVerfG NJW 1983, 2931; 1996, 651; gegen Katastrophen, die von amerikanischen C-Waffen-Lagern drohen, BVerfGE 77, 170, 222 ff.
13 BVerfGE 92, 26, 46
14 also wohl doch eher Freiheitsrechte, Anmerkung des Verfassers
15 BVerfGE 50, 290, 337; siehe auch: Schwerdtfeger, Zur Verfassungsmäßigkeit der paritätischen Mitbestimmung, 1978, 76 ff.
zu einem Gefüge objektiver Normen zu verselbständigen, in denen der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt“.11
In diesem Sinne ist also auch die staatliche Schutzpflicht im Sinne des Art. 2 II 1 GG immer im Lichte einer die Freiheit des einzelnen Individuums unterstützenden, ergänzenden Funkti-on verstanden worden.12 Dementsprechend hält das Bundesverfassungsgericht einen klag-baren Anspruch des Bürgers auf staatliche Schutzmaßnahmen nur dann für vorstellbar, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzuläng-lich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben.“13
Als Quintessenz dieser Rechtsprechung kann also festgestellt werden, daß der Staat auf-grund seiner Art. 2 II 1 GG entsprechenden Schutzaufgabe zum ordnungsbehördlichen Han-deln gegen Corona-Gefahren berechtigt und im Rahmen des geltenden Rechts auch ver-pflichtet ist. Eine Gleichwertigkeit dieser Verpflichtung mit den durch ordnungsrechtliche Maßnahmen verbundenen Eingriffen in Freiheitsrechte ist mit dieser Feststellung aber nicht verbunden.
Nach Ansicht des Verfassers beruht die hier kritisierte Begründung auf einer unzulässigen ordnungspolitischen Ausdeutung der institutionellen Seite des Art. 2 II 1 GG. Bereits in sei-nem Mitbestimmungsurteil aus den siebziger Jahren hat aber das Bundesverfassungsgericht die Unzulässigkeit einer ordnungspolitischen Ausdeutung der Grundrechte hervorgehoben und ausgeführt: „Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind die Grundrechte in erster Linie individuelle Rechte.14 Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien be-steht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung. Sie läßt sich deshalb nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, indem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt.“15 Praktisch kann sich die Politik also nicht darauf zurück-ziehen zu behaupten, sie sei von Verfassungs wegen zu den in Rede stehenden Grund-rechtseingriffen verpflichtet. Vielmehr bedarf es hierzu einer grundsätzlichen politischen Ent-scheidung, die nur auf der Grundlage eines gesellschaftlich – durch freien öffentlichen Dis-kurs – legitimierten Werturteils unter Berücksichtigung des staatlichen Schutzauftrages einer-seits und andererseits der Freiheitsgrundrechte erfolgen kann.
4.
Die Argumentation des Gesetzgebers wird nach Ansicht des Verfassers dem rechtsphiloso-phischen Entstehungsgrund der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit seiner Bürger einerseits und der Tragweite der eingeschränkten Freiheitsgrundrechte der Bürger andererseits nicht gerecht. Nach der überkommenen Auffassung der westeuropäischen Staatsphilosophie hat die in Rede stehende staatliche Schutzpflicht ihre Quelle nicht in den im Grundrechtsteil der Verfassung geregelten Freiheitsrechten der Einwohner, sondern sie ist eine, wenn nicht die wichtigste Legitimationsgrundlage für die Existenz des Staates an sich. Die Grundrechte haben eine ganz andere staatsrechtliche Funktion. Sie haben die Auf- 5
16 Frotscher/Pieroth, a.a.O.
gabe, alle Einwohner vor unangemessenen Einschränkungen ihrer Freiheit durch den Staat zu schützen und zeigen die Grenzen der staatlichen Machtvollkommenheit gegenüber sei-nen Einwohnern auf. Das Bewußtsein dieses Unterschiedes ist erforderlich, um eine grund-rechtsdogmatisch saubere Ermittlung der verfassungsrechtlichen Grenzen zulässiger staatli-cher Corona-Regeln vornehmen zu können im Rahmen der unstreitig erforderlichen Verhält-nismäßigkeitsprüfung.
Um diese These, die zweifellos mit den traditionellen westeuropäischen Verfassungsdogma-tiken übereinstimmt, zu erläutern, ist es notwendig, die rechtphilosophischen bzw. staatsphi-losophischen Grundlagen darzustellen, die dem Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutsch-land seit 1949 zugrunde liegen. Dann stellt sich heraus, daß die Pflicht des Staates, die Ge-sundheit und das Leben seiner Bürger innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu schüt-zen, wie auch zum Teil die Grundrechte selbst, beruhen auf der allgemeinen rechtsphiloso-phischen Legitimation der Existenz des Staates als solchem. Diese wird nach dem westeu-ropäischen Grundverständnis unter anderem gesehen in dem sogenannten „Gesellschafts-vertrag“, der die „Geburtsstunde des Staates“ darstellt. Ausgehend von naturrechtlichen Überzeugungen bei Hugo Grotius und Thomas Hobbes wird die Legitimität des Staates ab-geleitet aus der „freiwilligen“ Abtretung aller Gewaltbefugnisse im Rahmen des Gesell-schaftsvertrages durch die konstituierende Bürgerschaft, die auf diese Weise mit der Errich-tung des Staates den „Leviatan“ (Hobbes) schafft, welchem alle Gewaltbefugnisse zustehen und der die alleinige Aufgabe hat, das Einhalten derjenigen rechtlichen Regelungen zu ga-rantieren, die jedem seiner Bürger ein Leben in Ruhe und Sicherheit unter Ausnutzung der ihnen nach der Rechtsordnung zukommenden Rechte gewährleistet. Nur und in diesem Rahmen kann der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet sein, seine Bürger auch vor Ansteckungsgefahren zu schützen. Wegen des absoluten Primats der Grundrechte im Ver-hältnis zwischen dem Bürger und dem Staat kann diese Schutzpflicht unter Berücksichtigung westeuropäischer staatsphilosophischer Grundsätze niemals so weit gehen, daß sie eine Legitimation darstellt, die es dem Staat ermöglichen würde, die Grundrechte so grenzenlos und allgemein über Jahre hin einzuschränken, wie dies durch § 28a Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit den Gesetzen über die „Feststellung der epidemischen Lage von nationa-ler Tragweite“ geschehen ist. Aus diesem Grund sind vermutlich entsprechende Grund-rechtsbeschränkungen in maßgebenden westeuropäisch geprägten Staaten, wie Schweden, der Schweiz, England, Portugal und Spanien, zwischenzeitlich durch die Regierungen wieder außer Kraft gesetzt oder durch die Gerichte für unzulässig befunden worden. Da die deut-schen Gerichte hier bisher einen anderen Weg eingeschlagen haben, bleibt die Entwicklung abzuwarten. Sollte diese Diskrepanz fortbestehen, hätte dies für die Bundesrepublik einen vollständigen Paradigmenwechsel bei der Rechtsanwendung zur Folge. Hiermit meint der Verfasser die – bisher von der herrschenden Meinung abgelehnte – Tendenz der Politik, die politischen Grundentscheidungen als auf verfassungsrechtlichen Verpflichtungen beruhend darzustellen. Dabei wird der Anschein erweckt, politische Grundsatzentscheidungen der Exekutive ergäben sich ausschließlich aus einer verfassungsrechtlichen Pflicht, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommende „Werteordnung“ durch exekutives Handeln aktiv und lenkend zu verwirklichen. Daß diese juristische Begründung nicht zutreffen kann, folgt aber daraus, daß die Väter des Grundgesetzes der verfassungsrechtlichen Festlegung eines gesellschaftspolitischen Ordnungsmodells eine eindeutige Absage erteilt haben.16
Der dogmatische Ansatz dieses Beitrags hat den Zweck, die Grenzen der Ableitung der nicht von dem Verfasser bezweifelten Pflicht des Staates, das Leben und die Gesundheit seiner Bürger zu schützen, aus der Grundrechtsnorm des Artikels 2 II 1 GG aufzuzeigen und eine teleologisch befriedigende Begründung der Gewichtung der öffentlichen Interessen bei ihrer Abwägung mit den Freiheitsgrundgesetzen zu ermöglichen. Er bezweckt weiter, die staats- bzw. rechtsphilosophischen Grenzen aufzuzeigen, welche bei Grundrechtseingriffen im Zu-sammenhang mit der neuartigen Corona-Pandemie deutlicher herauszuarbeiten sind. Die Kernthese besteht wie gesagt in dem Hinweis auf die „Tatsache“, daß sich die westeuropäi- 6
sche staatsphilosophische Tradition in markanter Weise von außereuropäischen Gesell-schafts- und Staatsmodellen durch die Bedeutung des Grundsatzes unterscheidet, laut wel-chem auch der Allmacht des Staates ethische bzw. rechtliche Grenzen gesetzt sind, die der Staat nicht überschreiten darf. Dem Verfasser geht es darum, die Dogmatik von der aus ei-nem Grundrecht (Art. 2 II 1 GG) abgeleiteten Schutzpflicht des Staates zu problematisieren.
Die Lehre, nach welcher Fürst und Staat nicht von jeglicher rechtlichen oder ethischen Bin-dung im Verhältnis zu den Staatsbürgern frei sind, zieht sich durch die gesamte westeuro-päische staatsphilosophische Tradition, die erstmals grundlegend von Plato ausgearbeitet worden ist. Dieser Grundgedanke der westeuropäischen Rechtsphilosophie findet auch Ein-gang in die neuzeitliche Lehre von der Souveränität des Staates bei Jean Bodin, die für das moderne Verfassungs- und Staatsverständnis bis heute als grundlegend angesehen wird. Danach ist die Gewalt des staatlichen Souveräns ewig und unbeschränkt nach Macht, Auf-gabe und Zeit. „Das bedeutet aber nicht“ – heißt es zum Beispiel im Lehrbuch „Staatsphilo-sophie“ von Günther Holstein aus dem Jahre 1933 (!) – „daß Fürst und Staat nun von jegli-cher rechtlichen Bindung frei sind. Es ist von grundlegender Bedeutung, daß Bodin ganz im Sinne des Mittelalters die Übung der Gerechtigkeit unmittelbar in seine Definition des Staa-tes hineinnimmt, um ihn auch darin im alten Sinne von der Räuberbande zu unterscheiden. Die Konsequenz dieses Gedankens ist nichts anderes, als daß damit zugleich die volle Bin-dung des Staates, so auch des Fürsten, an die göttlichen und natürlichen Gesetze aufrecht-erhalten wird. Das, was die antike Theorie aus den unmittelbaren geistigen Gegebenheiten menschlicher Gewißheit abgeleitet hatte, das, was christliche Auffassung zugleich als unmit-telbaren Ausfluß einer allgemeinen göttlichen Offenbarung ansah, wird so in ungebrochener Einheitlichkeit als letzter Wert in allem Politischen und über allem Politischen konserviert. Es ist also nicht das Recht und nicht der Inbegriff der Rechtsnormen an sich, sondern nur die besondere und umgrenzte Rechtsquelle des geschriebenen Rechts, die ausschließlich in die Hand des Fürsten und in die Schöpfermacht des Staates gelegt wird. Es bleibt ein Recht von absoluter Geltungskraft jenseits dieser Normen bestehen, es bleibt aber auch die letzte inne-re rechtsimperativische Bindung für die Schöpfung des gesetzten Rechts, die aus jenem fließt. So ist für den Fürsten nicht nur das Privatrecht seiner Untertanen Schranke der Macht; und es entfällt auch gegenüber dem Herrscher, der Recht und Gesetz verletzt, die Gehor-samspflicht, die sonst besteht. So kann im Rahmen dieses Staates trotz aller Machtkonzen-tration doch Freiheit des Geistes im humanistischen Sinne bestehen.“
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß auch bereits im Jahre 1933 solche Ge-danken von den absoluten rechtlichen Grenzen staatlicher Macht, welche auch der absolute Herrscher nicht ungestraft überschreiten darf, als „herrschende Meinung“ galten. Trotzdem hat sich der deutsche Staat in der Zeit bis 1945 systematisch über diese schon damals als wirksam angesehenen rechtlichen Grenzen hinweggesetzt. Gerade der deutsche „Rechts-anwender“ sollte deshalb die Problematik erkennen, die sich hinter der Lehre von der verfas-sungsrechtlichen Ableitung der Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit aus ei-nem Grundrecht (Art. 2 II 1 GG!) verbirgt.
Dr. Robbert