XIV/1-17
I.
In der Diskussion über die Auswirkungen der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015[i], nach deren Inhalt die nach der Wiedervereinigung vorgenommene nachträgliche flächendeckende beitragsrechtliche Veranlagung sogenannter „Altanschließer-Grundstücke“ in Brandenburg gegen die Grundrechte der Artt. 2 I und 20 III GG (Rechtstaatsgebot) verstößt, wird zu wenig darauf hingewiesen, daß die in vielen Fällen nach Bekanntwerden dieser Beschlüsse von Betroffenen eingelegten Rechtsbehelfe („Beschwerden“, Widersprüche, Anträge auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, „Schadensersatzforderungen“) wegen der Anwendbarkeit der Regelung des § 60 VwGO in diesen Fällen, der die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung im Falle eines verspäteten Widerspruchs regelt, hohe Erfolgsaussichten haben.
Es geht hier um diejenigen Wasseranschlußbeitragsforderungen der Gemeinden bzw. ihrer Wasserverbände, welche aufgrund der ursprünglichen Verjährungsfristen (§ 8 VII 2 KAG a.F.) spätestens am 1.2.2004 verjährt gewesen waren (sogenannte Altanschließer-Fälle). Zur Vermeidung erheblicher Einnahmeausfälle waren hier seit dem Jahre 2009 rückwirkend wesentlich längere, erst frühestens 2015 auslaufende Verjährungsfristen inkraft gesetzt worden, was dann dazu führte, daß die Gemeinden und deren Verbände seit diesem Zeitraum (2009 bis 2015) die Eigentümer dieser „Altanschließer-Grundstücke“ erstmals oder erneut zu Wasseranschlußbeiträgen heranzogen. Grundlage dieser Handlungsweise der Gemeinden waren in erster Linie die ständige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg[ii], bestätigt durch einen Beschluß des Verfassungsgerichts Brandenburg vom 21.9.2012[iii], und eine darauf beruhende Richtlinie des Innenministeriums, welche alle diese rückwirkende Änderung der Rechtslage für mit den – in Wahrheit verletzten – Grundrechten der Betroffenen aus Artt. 2 I und 20 III GG vereinbar erklärt hatten. Die Betroffenen haben es mit Rücksicht auf die hieraus folgende tatsächliche Zwecklosigkeit rechtlicher Gegenwehr in den meisten Fällen unterlassen, Rechtsmittel (Widerspruch) gegen diese – verfassungswidrigen – Veranlagungsbescheide einzulegen, was dazu geführt hat, daß die Bescheide zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 über die Verfassungswidrigkeit dieser Vorgehensweise schon bestandskräftig geworden waren.
II.
Gemäß § 60 I VwGO, der auf verwaltungsrechtliche Widersprüche im Sinne des § 69 VwGO entsprechend anwendbar ist (vgl. § 70 II VwGO), ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Widerspruchsfrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
In den hier behandelten Fällen haben die Betroffenen die Widerspruchsfrist gegen die ihnen in den Jahren 2010 bis 2015 zugestellten Anschlußbeitragsbescheide verstreichen lassen, weil ihnen die faktische Aussichtslosigkeit der Widerspruchseinlegung im Hinblick auf die unzulässige rückwirkende Verjährungsverlängerung durch die erwähnten Entscheidungen der obersten Brandenburgischen Gerichte und entsprechende Hinweise hierauf seitens des Innenministeriums und der Gemeinden massiv vor Augen geführt worden war. Die Betroffenen befanden sich damals also – wie die obersten Brandenburgischen Gerichte und Landesbehörden – in einem Rechtsirrtum. Es kommt also hier entscheidend darauf an, ob der hier beschriebene Rechtsirrtum der Widerspruchsführer, der den Grund für die Nichteinlegung eines rechtzeitigen Widerspruchs gebildet hat, als „unverschuldet“ im Sinne des § 60 I VwGO zu qualifizieren ist. Der hier in Rede stehende Rechtsirrtum ist abzugrenzen von der nachträglichen Änderung der Rechtslage infolge einer nach Eintritt der Bestandskraft vorgenommen Gesetzesänderung. Eine solche nachträgliche Rechtsänderung stellt niemals einen Wiedereinsetzungsgrund dar.
Nach der Rechtsprechung stellt eine sich nachträglich als unzutreffend herausstellende rechtliche Bewertung einer anfechtbaren Entscheidung normalerweise keinen Wiedereinsetzungsgrund dar. Rechtliche Bewertungen sind – wie alle Wertungsfragen – immer abhängig von subjektiven, letztlich logisch nicht vorhersehbaren Einstellungen, und damit dem „ewigen Kommen und Gehen der Erscheinungen“ (Faust) unterworfen. Der Zweck der (im vorliegenden Fall einmonatigen) Rechtsmittelfristen fordert deshalb grundsätzlich, diese nicht im Falle einer nach deren Ablauf eintretenden Änderung der bisherigen Rechtsauffassung durch Gewährung von Wiedereinsetzung nachträglich in Frage zu stellen.
Im vorliegenden Zusammenhang kommt allerdings dem verfassungsrechtlich verankerten Vertrauensschutz der Betroffenen, der seine Grundlage ebenfalls in den Grundrechten (Artt. 2 I und 20 III GG) hat, eine entscheidende Bedeutung zu.
III.
Ein Irrtum über Rechtsfragen rechtfertigt ausnahmsweise eine Wiedereinsetzung, wenn er „unvermeidbar“ war. Der BGH hat dies im Bereich des Zivilprozesses bei einer schwierigen und verwickelten Rechtslage einmal angenommen[iv]. Er hat aber einen solchen Fall auch dann angenommen, wenn der Rechtssuchende ein Rechtsmittel auf ausdrücklichen richterlichen Rat hin zurückgenommen hat[v].
„Verschulden“ im Sinne der Wiedereinsetzungsregeln bedeutet, daß der Verfahrensbeteiligte in zurechenbarer Weise gegen seine eigenen Interessen handelt[vi]. Es kommt bei der „Zumutbarkeit“ in diesem Sinne auf Zurechnungsmaßstäbe an, die im Verwaltungsverfahren von denjenigen des Zivilprozeßrechts abweichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfordert die Annahme einer unverschuldeten Fristversäumnis, daß dem Betroffenen nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, daß er die Frist versäumt hat, ihm also die Einhaltung der Frist nicht zumutbar war[vii]. Der Betroffene muß also sein Möglichstes zur Fristwahrung tun, also die von ihm unter den gegebenen Umständen zu erwartende, ihm zumutbare Sorgfalt anwenden. Der Rechtsunkundige hat deshalb sich selbst gegenüber eine Obliegenheit, unverzüglich juristischen Rat – grundsätzlich bei einem Rechtsanwalt – einzuholen[viii].
Nach alledem kommt es hier bei der Frage des Verschuldens darauf an, ob die Versäumung der Widerspruchsfrist auf einem vermeidbaren oder auf einem unvermeidbaren Rechtsirrtum beruht. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Fall, in welchem ein Beteiligter eine Rechtsbehelfsfrist verstreichen ließ, weil er sich auf eine später geänderte gefestigte Rechtsprechung gestützt hatte, darauf abgestellt, ob der Betroffene mit einer späteren Änderung dieser Rechtsprechung rechnen mußte. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts darf es einem Beteiligten nicht als Verschulden angerechnet werden, wenn er auf eine (später aufgegebene) eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut hat[ix]. Im vorliegenden Fall gab es zwar nur eine eindeutige Rechtsprechung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts bzw. des Landesverfassungsgerichts, dies kann hier allerdings zwanglos mit der letzteren Situation gleichgesetzt werden, weil es um Landesrecht geht, welches bundesgerichtlich nicht reversibel ist (vgl. § 137 I Ziff. 1. VwGO).
Im Hinblick auf den im Verwaltungsrecht geltenden verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz räumt das Kriterium der Zumutbarkeit bei § 60 I VwGO die Möglichkeit ein, auch den im Gesetz nicht ausdrücklich geregelten Fall eines Mitverschuldens der Behörde zu berücksichtigen[x]. Es entspricht dem Rechtstaatsgebot, daß die Behörde aus eigenen oder ihr zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile zu lasten des Betroffenen ableiten darf[xi]. Deshalb wird ein auf einem Rechtsirrtum beruhendes Fristversäumnis als unverschuldet angesehen, wenn es durch eine falsche Rechtsauskunft der Behörde verursacht worden ist[xii].
Im Ergebnis bleibt also festzuhalten, daß in allen hier besprochenen Fällen ein Wiedereinsetzungsgrund im Sinne von § 60 I VwGO vorliegt. Den betroffenen Eigentümern sogenannter „Altanschließergrundstücke“ ist also bei von ihnen eingelegten Rechtsmitteln, welche sie nach Bekanntwerden der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 gegen bestandskräftige Anschlußbeitragsbescheide aus den Jahren 2009 bis 2015 eingelegt haben, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, allerdings nur dann, wenn auch die übrigen Voraussetzungen des § 60 II und III VwGO erfüllt sind.
Gemäß § 60 II 2 VwGO müssen die Rechtsmittel, um Wiedereinsetzung zu ermöglichen, von den Betroffenen innerhalb von zwei Wochen nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 eingelegt worden sein. Da diese Beschlüsse erst gegen Ende des Jahres 2015 bzw. Anfang 2016 erstmals in der Presse verbreitet worden waren, dürfte die zwei-Wochen-Frist im allgemeinen noch bis Ende März 2016 eingelegten Widersprüchen/Rechtsmitteln als eingehalten zu betrachten sein, da es ja in jedem Einzelfall auf den Wissensstand des jeweiligen Grundstückseigentümers ankommt.
Nach § 60 III VwGO sind Wiedereinsetzungsgesuche ein Jahr nach dem Ende der versäumten Frist unzulässig. Es handelt sich hierbei um eine sogenannte „uneigentliche gesetzliche Frist“, deren Ende einen äußersten Zeitpunkt festlegt, nachdem auch bei fehlendem Verschulden eine Verfahrenshandlung nicht mehr vorgenommen werden kann. Dies bedeutet, daß zunächst nur diejenigen der bis etwa Ende Januar 2016 eingelegten „Einsprüche“ zur Wiedereinsetzung führen können, welche verfassungswidrige Beitragsbescheide betreffen, welche etwa nach dem 1.11.2014 erlassen worden waren. Dies würde bedeuten, daß ein Großteil der Betroffenen keine Wiedereinsetzung erlangen könnte.
Allerdings läßt § 60 III zweiter Halbsatz VwGO auch gegen vor dem 1.11.2014 zugestellte Bescheide Wiedereinsetzungsanträge zu, wenn diese „infolge höherer Gewalt“ nicht angefochten worden sind. Unter höherer Gewalt in diesem Sinne ist ein Ereignis zu verstehen, das auch durch die größte, nach den Umständen des konkreten Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe zu erwartenden und zumutbaren Sorgfalt nicht abgewehrt werden konnte[xiii]. Nach Ansicht des Verfassers stellen die eingangs dargelegten Gründe, welche die Betroffenen vor Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 von der Einlegung von Widersprüchen abgehalten haben, einen solchen „höherer Gewalt“ dar. Dies hat zur Folge, daß auch den übrigen hier betroffenen Grundstückseigentümern Wiedereinsetzung zu gewähren ist, sofern sie zwei Wochen nach Aufdeckung ihres Rechtsirrtums „Einspruch“ bei der Behörde eingelegt haben.
Dr. Robbert
[i] 1 BvR 3051/14 und 1 BvR 2961/14
[ii] zuletzt Urteil vom 29.9.2014, OVG 9 N 40.14
[iii] VfGBbg 46/11
[iv] BGH NJW 1993, 3206
[v] BGH NJW 1981, 576
[vi] Schoch/Bier, VwGO-Kommentar, § 60, RN 18
[vii] BVerwGE 50, 248, 254
[viii] BVerwG BRS 64 Nr. 60
[ix] BVerfG NVwZ 2003, 332
[x] OVG Münster NVwZ-RR 2005, 449
[xi] BVerfG NJW 2004, 2887
[xii] BVerwG StAZ 1997, 382; NVwZ 1996, 267; NJW 2004, 2887
[xiii] so die Definition des Bundesverwaltungsgerichts in: NVwZ 1998, 1292