XIV/1-18/A
von Rechtsanwalt Dr. Jens Robbert, Potsdam
1.
Anläßlich des politischen Systemwechsels und der Beseitigung des „eisernen Vorhangs“ entschieden sich zahlreiche Bürger der ehemaligen Sowjetunion mit jüdischer Nationalität (die bundesdeutschen Stellen sprechen in diesem Zusammenhang lieber von „Bürgern jüdischen Glaubens“) nach Deutschland überzusiedeln. Schon im Juli 1990 beschloß deshalb der Ministerrat der DDR, „ausländischen jüdischen Bürgern, denen Verfolgung oder Diskriminierung droht, aus humanitären Gründen Aufenthalt in Deutschland“ zu gewähren.[i] Dem gegenüber verhielt sich die Bundesrepublik diesem Personenkreis gegenüber zunächst sehr zurückhaltend. Nach heftigen politischen Auseinandersetzungen im Bundestag einigten sich jedoch dann Ende des Jahres 1990 Bundesregierung, Zentralrat der Juden in Deutschland und die Länderregierungen auf eine Fortführung der Aufnahme dieses Personenkreises, allerdings mit einer deutlich anderen Begründung. Danach sollte mit der Aufnahme jüdischer Zuwanderer die Verantwortung Deutschlands für das gegenüber Juden begangene Unrecht herausgestellt und ein Beitrag zur Wiedergutmachung dieses Unrechts geleistet werden. Daneben sollten die überalterten und winzigen jüdischen Gemeinden in Deutschland erhalten und gestärkt werden. Schließlich bezweckten die erwähnten staatlichen Regierungsstellen eine Wiederbelebung des jüdischen Elements im deutschen gesellschaftlichen Leben. Dagegen spielte – im Gegensatz zu der Entscheidung der DDR – eine irgendwie geartete Verfolgungssituation in der ehemaligen Sowjetunion keine Rolle.[ii] Der Beschluß der Regierungschefs vom 9.1.1991 beruht auf diesen Weichenstellungen. Der besondere aufenthaltsrechtliche Status des betroffenen Personenkreises ergibt sich ebenfalls aus dem Wortlaut dieses Beschlusses vom 9.1.1991, in dem es heißt, „die Einreise von Juden aus der Sowjetunion – ohne zahlenmäßige Begrenzung – werde aufgrund von Einzelfallentscheidungen in entsprechender Anwendung des „Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge“ (HumHAG, sog. Kontingentflüchtlingsgesetz) ermöglicht.[iii] Aufgrund dieser Zwecke der maßgeblichen Aufnahmeentscheidung der Regierungschefs vom 9.1.1991 war diese möglicherweise durch das Kontingentflüchtlingsgesetz niemals „gedeckt“. Die Entscheidung sah aber ausdrücklich seine analoge Anwendung vor.
Der von der Exekutive mit ihrem Beschluß vom 9.1.1991 gewählte Weg der „entsprechenden Anwendung“ des HumHAG (die genannte Regelung entschied im Ergebnis immerhin über die dauerhafte Übernahme von etwa 200.000 betroffenen Personen bis zum 31.12.2004) dürfte folgende verfassungsrechtliche Problematik zur Grundlage haben: Nach dem in Art. 80 GG zum Ausdruck kommenden Gesetzesvorbehalt in der Form der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Wesentlichkeitstheorie“ bedürfen „normative Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit“ einer Regelung durch ein Parlamentsgesetz.[iv] Daß es sich bei der „Regelung“ vom 9.1.1991 um eine solche grundsätzliche Entscheidung mit wesentlicher, normativer Wirkung handelte, kann nicht bezweifelt werden. Als Rechtsgrundlage, welche die Regierungschefs im Sinne der zitierten Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überhaupt erst zur Umsetzung dieses Beschlusses ermächtigte, wurde deshalb § 1 I HumHAG „analog“ herangezogen. Offenbar gingen also alle beteiligten Regierungschefs ursprünglich davon aus, daß eine entsprechende analoge Anwendung des § 1 I HumHAG bei der Aufnahme dieses Personenkreises verfassungsrechtlich zulässig war. Verwaltungsrechtlich hatte die Regelung vom 9.1.1991 die Qualität einer internen Verwaltungsvorschrift ohne Außenwirkung. Durch ihre erstmalige Anwendung entfalten derartige Verwaltungsvorschriften allerdings über den Grundsatz der „Selbstbindung der Verwaltung“ in Verbindung mit Art. 3 I Grundgesetz dennoch Außenwirkung, auf welche sich Betroffene, die alle Tatbestandsmerkmale der Regelung erfüllen, auch gerichtlich berufen können.
Aufgrund der Anordnung der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten der Länder vom 9.1.1991 waren jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufenthaltsrechtlich „wie Kontingentflüchtlinge“ nach § 1 HumHAG aufzunehmen. Verfahrensrechtlich zuständig für die Feststellung der Zugehörigkeit eines Antragstellers zu diesem Personenkreis („jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion“) waren ausschließlich die konsularische Vertretung in der ehemaligen Sowjetunion und das Bundesverwaltungsamt (seit 2003 das Bundesamt für Flüchtlinge). Nach dem Inhalt der insoweit für den flüchtlingsrechtlichen Status der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion maßgeblichen „Regelung zwischen den Regierungschefs von Bund und Ländern“ vom 9.1.1991 sollten sich die Rechtsfolgen der Übernahmeanordnung vollständig nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz richten, also Art. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention einschränkungslos anwendbar sein. Art. 12 I Genfer Flüchtlingskonvention lautet wie folgt: „Das Personalstatut jedes Flüchtlings bestimmt sich nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes.“ Die bundesdeutschen Gerichte haben deshalb bei Fällen, an denen bis zum Außerkrafttreten des HumHAG ein jüdischer Kontingentflüchtling beteiligt war, einhellig Angelegenheiten aus dem Bereich des Personalstatuts nach deutschem Wohnsitzrecht und nicht nach dem Recht der postsowjetischen Staatsangehörigkeit des jüdischen Zuwanderers entschieden. Bei Streitigkeiten über seit 2005 abgeschlossene Lebenssachverhalte dieses vor dem 1.1.2005 eingewanderten Personenkreises ist dies wegen der unten darzulegenden gesetzlichen Änderungen durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes dagegen streitig.[v]
Die analoge Anwendung des § 1 I HumHAG, welche durch die erwähnten bundesbehördlichen Verwaltungsakte ausdrücklich angeordnet wurde, verschaffte einem jüdischen „Kontingentflüchtling“ bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zuwanderungsgesetzes am 1.1.2005 nach herrschender Meinung den Status eines Flüchtlings mit den besonderen Rechten aus Artt. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention, obwohl die Verleihung dieser Rechtstellung durch den deutschen Staat gerade nicht den Zweck hatte, einer Verfolgungssituation Rechnung zu tragen.[vi] Hierdurch wurde dem Zweck des grundlegenden Beschlusses der Regierungschefs vom 9.1.1991 Rechnung getragen, der über den Weg der entsprechenden Anwendung der Artt. 2 bis 34 der Genfer Flüchtlingskonvention den jüdischen Emigranten und ihren Familienangehörigen unmittelbar nach der Einreise einen gesicherten dauerhaften aufenthaltsrechtlichen Status vermitteln wollte, sie in den Genuß staatlicher Eingliederungshilfen kommen ließ und ihnen die Möglichkeit bot, auf Dauer in Deutschland zu bleiben und sich hier eine neue Existenz aufzubauen.
2.
Die große Mehrheit der auf der Grundlage der oben dargelegten Regelung, die bis zum 31.12.2004 Anwendung gefunden hat (näheres dazu siehe unten), in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion hat ihre ausländische Staatsangehörigkeit auch nach der Einreise in Deutschland lange – in der Mehrzahl der Fälle bis heute – beibehalten. Deshalb müssen die Gerichte, insbesondere die Familiengerichte, regelmäßig unter Anwendung der Regeln des deutschen internationalen Privatrechts klären, welches nationale Sachrecht bei der Entscheidung des Falles anwendbar ist. Soweit das international-privatrechtliche Kollisionsrecht die anwendbare Rechtsordnung für Angelegenheiten, die eine Partei persönlich nahe angehen, an deren Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, gewöhnlichen oder schlichten Aufenthalt anknüpft, bezeichnet man diesen Regelungsbereich als „Personalstatut“. Der Ausdruck bezeichnet also einmal die Summe der Anknüpfungsgegenstände (Regelungsgegenstände) des internationalen Privatrechts, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie eine Partei persönlich nahe angehen (im deutschen IPR Geschäftsfähigkeit und Erbfolge) und deshalb nach dem Sachrecht der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Aufenthalts „angeknüpft“ werden, bzw. genügt für die kollisionsrechtliche Zugehörigkeit zum Personalstatut bei familienrechtlichen Sachnormen, daß an das Sachrecht der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Aufenthalts einer der beteiligten Personen angeknüpft wird. Zum Personalstatut in diesem Sinne gehört daher auch das Verhältnis einer Person zu seinen Eltern oder Kindern sowie das Recht der Ehewirkungen. Konkret geht es um alle personen-, familien- und erbrechtlichen Rechtsnormen.[vii] Der Ausdruck „Personalstatut“ bezeichnet andererseits die Summe der Anknüpfungsmomente, die ein internationales Privatrecht benutzt, um die regelungsbedürftigen Lebenssachverhalte im oben dargelegten Sinn („Anknüpfungsgegenstände“) an das jeweils anwendbare nationale Sachrecht anzuknüpfen.[viii] Nach den allgemeinen kollisionsrechtlichen Regeln der Artt. 3 bis 48 EGBGB des deutschen internationalen Privatrechts ist Anknüpfungskriterium für das Personalstatut die Staatsangehörigkeit, also das Recht des Staates, dem der „Fremde“ angehört (sog. Heimatrecht).
Diese Anknüpfungsregel erfährt eine grundsätzliche Ausnahme bei Flüchtlingen, Vertriebenen und Staatlosen im Sinne der Artt. 5 I und 15 IV EGBGB. Wer als „Flüchtling“ zu gelten hat, ist abschließend positiv-rechtlich – und für den deutschen Richter verbindlich – in § 3 Asylgesetz und § 60 Aufenthaltsgesetz geregelt. Flüchtling im deutschen Fremdenrecht ist danach nur derjenige, der seine Heimat wegen eines dort final gegen ihn ausgeübten Verfolgungsdrucks verlassen hat.[ix] Da das „Kontingentflüchtlingsgesetz“ (HumHAG) die wesentlichen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention für anwendbar erklärte, waren Personen, welche dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterfielen, also aufgrund einer auf § 1 HumHAG beruhenden allgemeinen humanitären Aufnahmeentscheidung der Exekutive nach Deutschland gekommen waren, statusrechtlich einem „Flüchtling“ im Sinne der heutigen Regelungen in § 3 Asylgesetz und § 60 Aufenthaltsgesetz gleichgestellt, obwohl das Vorliegen des Tatbestandes eines Flüchtlings im Sinne von § 3 I Asylgesetz für diesen Personenkreis nicht konkret festgestellt zu werden brauchte. Grundlage dieses besonderen Status eines Kontingentflüchtlings war nach dem Gesetz also allein die staatliche, den aufzunehmenden Personenkreis definierende, Aufnahmeverfügung der Exekutive. Nach dem Gesetz mußte allerdings ein typischer Verfolgungsdruck im Heimatstaat vorliegen.
Allerdings hat der Gesetzgeber durch das am 1.1.2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, in dessen Zusammenhang das Kontingentflüchtlingsgesetz (HumHAG) außer Kraft gesetzt wurde, den Rechtsstatus der seit diesem Stichtag in Deutschland neu aufzunehmenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion grundsätzlich geändert. Deren aufenthaltsrechtlicher Status ergibt sich nunmehr abschließend aus § 23 II Aufenthaltsgesetz.
Die Besonderheit der Neuregelung besteht insbesondere darin, daß einem in den Genuß einer Maßnahme nach § 23 II Aufenthaltsgesetz kommenden Ausländer nicht mehr die Sonderrechte der Artt. 2-34 der Genfer Flüchtlingskonvention zugute kommen. Damit entfällt auch die Anwendbarkeit des Art. 12 I Genfer Flüchtlingskonvention auf das Personalstatut der seit dem 1.1.2005 auf der Grundlage des § 23 II Aufenthaltsgesetz aufgenommenen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.
3.
Bedauerlicherweise hat es der Gesetzgeber versäumt klarzustellen, ob der durch die Aufnahmeverfügung analog § 1 I HumHAG verliehene Flüchtlingsstatus fortbesteht und demgemäß, ob das Personalstatut der bis zum 31.12.2004 unter entsprechender Anwendung von § 1 I HumHAG aufgenommenen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion weiterhin gemäß Art. 12 I Genfer Flüchtlingskonvention an das deutsche Wohnsitzrecht angeknüpft wird oder ob dieser Personenkreis anknüpfungsrechtlich seit dem 1.1.2005 wie der seit dem 1.1.2005 nach § 23 II Aufenthaltsgesetz aufgenommene Personenkreis behandelt wird, für welchen mangels Schutzstatus im Sinne der Artt. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention die allgemeinen Regelungen der Art. 5 ff. EGBGB für die Anknüpfung des Personalstatuts Anwendung finden, nach welchem das Heimatrecht maßgeblich ist. Gemäß der ausschließlich aufenthaltsrechtlich zu qualifizierenden Überleitungsregelung des § 101 I 2 Aufenthaltsgesetz gilt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die vor dem 1.1.2005 nach § 1 III HumHAG oder in entsprechender Anwendung dieses Gesetzes erteilt worden ist, als Niederlassungserlaubnis im Sinne von § 23 II Aufenthaltsgesetz fort. § 103 Aufenthaltsgesetz stellt klar, daß Personen, die bis zum 31.12.2004 auf der Grundlage der unmittelbaren Anwendbarkeit des § 1 HumHAG in den Genuß der Artt. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention gekommen sind, diese Rechtsstellung weiterhin genießen. Weiter stellt die Überleitungsregelung[x] klar, daß dieser Flüchtlingsstatus weiterhin nur unter den Voraussetzungen der §§ 2a und 2b des früheren HumHAG aufgehoben bzw. entfallen kann.[xi] Da aber der Kreis der im Mittelpunkt dieses Beitrags stehenden, vor dem 1.1.2005 in Deutschland aufgenommenen jüdischen Personen aus der ehemaligen Sowjetunion den besonderen Schutzstatus nach Artt. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention nur Dank einer „entsprechenden Anwendung“ erhalten hatten, ist § 103 Aufenthaltsgesetz nach inzwischen herrschender Meinung auf diesen Personenkreis nicht anwendbar.[xii]
Das Bundesverwaltungsgericht entnimmt in seinem Urteil vom 22.3.2012[xiii] den Überleitungsvorschriften der §§ 101 und 103 Aufenthaltsgesetz in Verbindung mit den Gesetzesmotiven[xiv] „den hinreichend deutlichen Willen des Gesetzgebers, mit der abschließenden aufenthaltsrechtlichen Neuregelung in § 23 II Aufenthaltsgesetz auch die Fälle der vor dem 1.1.2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten (rückwirkend) zu erfassen, um die bisherige, aus der entsprechenden Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes resultierende unklare Rechtslage für die Zukunft zu bereinigen“. § 103 Satz 1 Aufenthaltsgesetz betreffe nur „echte“ Kontingentflüchtlinge. Die darin liegende unechte Rückwirkung ist nach dieser Auffassung jedenfalls insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als es um den damit verbundenen Wegfall des Abschiebungsverbotes nach Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention in Verbindung mit § 60 I Aufenthaltsgesetz geht. Die Kommentarliteratur weist in diesem Zusammenhang diese Auffassung bestätigend darauf hin, der fragliche Personenkreis sei nicht wegen eines Verfolgungsschicksals aufgenommen worden und genieße deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand eines ihm „möglicherweise“ in der Vergangenheit gewährten flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutzes.[xv] Aus diesem Grunde hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Revisionsentscheidung vom 4.10.2012 (1 C 12.11) das Urteil des VGH Mannheim vom 13.7.2011 (11 S 1413/10) aufgehoben. Allerdings ging es in der zitierten Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts konkret nicht um die Auswirkungen des Inkrafttretens des Zuwanderungsgesetzes auf das zukünftig anwendbare Personalstatut der vor dem 1.1.2005 aufgenommenen jüdischen Kontingentflüchtlinge, sondern das Bundesverwaltungsgericht mußte hier über den zum Flüchtlingsstatus gemäß § 1 I HumHAG i.V.m. Art. 33 I Genfer Flüchtlingskonvention gehörenden Abschiebungsschutz entscheiden. Nur in diesem Zusammenhang kann der Begründung der herrschenden Meinung zugestimmt werden, laut welcher vor 2005 aufgenommene Kontingentflüchtlinge nicht wegen eines Verfolgungsschicksals aufgenommen wurden und deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand eines flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutzes (Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention) entstehen konnte, wobei in dieser Fallkonstellation regelmäßig besonders hochwertige öffentliche Interessen für eine Beendigung des Abschiebungsschutzes streiten. Vermutlich waren es deshalb derartige Fallkonstellationen, welche die Verfasser des Zuwanderungsgesetzes davon absehen ließen, die hier behandelte Personengruppe der vor dem 1.1.2005 eingewanderten jüdischen Emigranten nicht in den Wortlaut der Überleitungsregelung des § 103 1 Aufenthaltsgesetz mit aufzunehmen. Richtiger wäre es deshalb, bei der hier besprochenen kollisionsrechtlichen Frage, ob Art. 12 I Genfer Flüchtlingskonvention für das Personalstatut dieses Personenkreises weiter maßgeblich ist, von einer Gesetzeslücke auszugehen. Jedenfalls sind §§ 101 und 103 Aufenthaltsgesetz i.V.M den Gesetzesmotiven hinsichtlich dieser kollisionsrechtlichen Frage keine „hinreichend deutlichen Willensäußerungen des Gesetzgebers“ zu entnehmen.[xvi]
Nach Auffassung des Verfassers sprechen sowohl Vertrauensschutzgründe als auch der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 I Grundgesetz) für eine analoge Anwendung der Überleitungsregelung des § 103 1 Aufenthaltsgesetz auf das Personalstatut der vor dem 1.1.2005 aufgenommenen jüdischen Kontingentflüchtlinge.
Zentrales Element der Rechtssicherheit ist die Beständigkeit staatlicher Regelungen, da sich der Staatsbürger auf deren Wirksamkeit verläßt und sich darauf einrichtet. Hierdurch erwächst ihm durch die Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtstaatsprinzip ein Anspruch auf Vertrauensschutz für die „individuelle Erwartungssicherheit“.[xvii]Das Bundesverfassungsgericht hat hieraus gefolgert, daß Gesetze grundsätzlich unzulässig sind, die vor seiner Verkündung bereits abgeschlossene Rechtsbeziehungen nachträglich veränderten Bedingungen unterwirft.[xviii] Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten – abgesehen von fehlender Betätigung des Vertrauens oder sonst fehlender Schutzwürdigkeit –, wenn die Betroffenen nicht mit dem Fortbestand der Regelung rechnen konnten, insbesondere weil die Rechtslage unklar und verworren war.[xix] Kein Rückwirkungsverbot besteht auch dann, wenn den Betroffenen kein beachtlicher Nachteil entsteht.
Hier geht es darum, daß der betroffene Kläger und der gesamte betroffene Personenkreis (ca. 200.000 Fälle), sich seit der Verlegung seines Wohnsitzes nach Deutschland im Jahre 2003 darauf einstellen konnte, seine ihn besonders nahe angehenden privatrechtlichen Verhältnisse nach dem deutschen Personalstatut behandelt zu sehen. Ob diese Tatsache bereits einen „abgeschlossenen Lebenssachverhalt“ im Sinne der Rechtsprechung zur sogenannten „echten Rückwirkung“ darstellt, ist fraglich, da allein die theoretische Anwendbarkeit deutschen Rechts noch kein „Rechtsverhältnis“ in diesem Sinne bedeutet. Der hier angesprochene „Statutenwechsel“ durch die Neuregelung des § 23 II Aufenthaltsgesetz enthält aber für die betroffene Personengruppe eine sogenannte „unechte Rückwirkung“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung, da das Gesetz für noch andauernde Tatbestände mit Wirkung für die Zukunft veränderte Rechtsfolgen vorsieht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß in derartigen Fällen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Gesetzesvorbehalt beachtet werden.[xx] Danach anzunehmende Bedenken müssen deshalb durch gesetzliche Übergangsregelungen ausgeräumt werden.
Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg zieht sich zur Begründung der Fortgeltung einzelner Elemente des Flüchtlingsstatus der Artt. 2 bis 34 Genfer Flüchtlingskonvention zugunsten der hier besprochenen Personengruppe das Gleichbehandlungsgrundrecht (Artikel 3 I GG) heran, mit welchem es eine partielle analoge Anwendung der Überleitungsvorschrift des § 103 1 Aufenthaltsgesetz begründet. In der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Magdeburg ging es um die Unzulässigkeit wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Lasten dieser Personengruppe nach dem 1.1.2005.[xxi]
[i] BT-Drs. 11/8439 vom 14.11.1990 – Einwanderungsoption für sowjetische Jüdinnen und Juden
[ii] BT-Drs. 11/8439 vom 14.11.1990, Seite 2 ff.; siehe auch: Hochreuther, Zuwanderung als Wiedergutmachung?, NVwZ 2000, 1376
[iii] BT-Drs. 12/229 vom 12.3.1991 – aufenthaltsrechtlicher Status der Juden aus der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten; siehe auch: Runderlaß des Bundesministers des Innern vom 10.8.1993, AZ: A2-125 341-ISR/1, zitiert in: VGH Mannheim, 11 S 1413/10, RN 37 bis 39
[iv] siehe nur: Sachs/Mann, Grundgesetz, 5. Auflage, Art. 80 RN 12 bei Fußnote 39
[v] für die weitere Anwendbarkeit des deutschen Wohnsitzrechts: OLG Celle, Beschluß vom 20.7.2011, 10 WF 219/11, StAZ 2012, 81; MünchKomm/von Hain, Art. 5 Anh. II EGBGB RN 81; für die Anwendbarkeit des Heimatrechts auf das Personalstatut: KG, 2.10.2017, 3 WF 140/17, NJ 2018, 245
[vi] VGH Mannheim, a.a.O. RN 33 bis 37
[vii] MünchKomm/Sonnenberger, Art. 5 Anh. II EGBGB RN 74 bei Fußnote 110; s.a.: Kegel a.a.O., § 13 II 2
[viii] Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Auflage, § 13 II 2.
[ix] zu den Einzelheiten: Staudinger/Bausback, Anh. IV zu Art. 5 EGBGB
[x] § 103 Aufenthaltsgesetz
[xi] vgl.: Renner/Dienelt/Wunderle, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, 1 § 103 RN 3
[xii] Renner/Dienelt/Wunderle a.a.O., RN 4
[xiii] 1 C 3.11, RN 32
[xiv] BT-Drs. 15/420 Seite 100
[xv] Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage, § 23 RN 25
[xvi] so auch sinngemäß: OLG Celle, Beschluß vom 20.7.2011, 10 WF 219/11, FtAZ 2012, 81; OVG Magdeburg, 12.1.2012, 2 L 104/10, Juris; a.A.: Kammergericht, 2.10.2017, 3 WF 149/17, NJ 2018, 245
[xvii] Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 Seite 652; Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, Seite 145 ff.
[xviii] BVerfGE 11, 139, 145 f; Sachs, a.a.O., Art. 20 RN 132 ff.
[xix] Sachs, a.a.O. RN 134
[xx] Sachs, a.a.O., Art. 20 RN 137
[xxi] OVG Magdeburg, 12.1.2012, 2 L 104/10, Juris RN 48 – 53