XIV/1-15
I. Erläuterung des wesentlichen rechtlichen Inhalts der Entscheidung
1. Ausgangslage
Mit dem Beschluß vom 12. November 2015 hat das Bundesverfassungsgericht jeweils zwei Anschlußbeitragsbescheide der Stadt Cottbus sowie die diese bestätigenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Cottbus[i] und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg[ii] aufgehoben, weil diese das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 I GG der Beschwerdeführer i.V.m. dem rechtstaatlichen Rückwirkungsverbot des Art. 20 III GG verletzen. Letzteres hatte die brandenburgische Verwaltungsgerichtsbarkeit seit etwa 10 Jahren verneint.
Es geht jeweils um Schmutzwasseranschlußbeitragsbescheide für Grundstücke, die im einen Fall bereits vor der Wiedervereinigung, im anderen Fall kurz nach der Wiedervereinigung durch die Abwasserkanalisation erschlossen waren, die also bereits zu diesen Zeitpunkten die Möglichkeit hatten, an die vorhandene Abwasserkanalisation angeschlossen zu werden. Nach der bis zum 31.1.2004 geltenden Fassung des § 8 VII 2 KAG (a.F.) waren die jeweils auf den betroffenen Grundstücken lastenden sachlichen Beitragspflichten zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Verjährungsvorschriften am 1.2.2004 infolge der Novellierung des § 8 VII 2 KAG neuer Fassung (n.F.) bereits verjährt, jedenfalls konnten sie nach der vor dem 1.2.2004 geltenden Fassung des § 8 VII 2 KAG a.F. nicht mehr festgesetzt und damit erhoben werden. Dies beruhte darauf, daß nach § 8 VII 2 KAG a.F. für den Beginn der vier-jährigen Verjährungsfrist der §§ 12 KAG, 169 AO zwingend auf den Zeitpunkt abzustellen war, an welchem erstens hinsichtlich des betroffenen Grundstücks die Möglichkeit des Anschlusses an die Abwasserkanalisation bestand und zweitens die zuständige Selbstverwaltungskörperschaft (Gemeinde) durch den Erlaß einer Satzung zum Ausdruck gebracht hatte, daß die entsprechend erschlossenen Grundstücke im Gemeindegebiet anschlußbeitragspflichtig sein sollten[iii]. In diesem Zusammenhang war Stichtag für den Beginn der Berechnung der Verjährungsfrist des § 12 I Ziff. 4b KAG i.V.m. § 169 II 1 Ziff. 2 AO derjenige Tag, an welchem nach dem Willen der Gemeinde die Satzung in Kraft treten sollte, wobei es nach der damaligen Gesetzesfassung gerade nicht darauf ankommen sollte, ob die Satzung an inhaltlichen Mängeln litt und deshalb unwirksam war oder ob sie fehlerfrei und damit wirksam war[iv]. § 8 VII 2 KAG a.F. bewirkte mithin, daß – abweichend von allgemeinen Verjährungsgrundsätzen – die Verjährung der Abgabenschuld bereits vor ihrer Entstehung beginnen konnte, weil im Falle der Mangelhaftigkeit der Satzung die Gemeinde den Beitragsanspruch trotz Beginns der Verjährung nicht – jedenfalls nicht rechtmäßig – festsetzen konnte. Dies hatte zur Folge, daß selbst auf einer unwirksamen Satzung beruhende und deshalb nicht durchsetzbare Beitragsforderungen nach dieser Rechtslage nach Ablauf der Vier-Jahres-Frist verjährt waren und damit im Sinne des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots als nachträglich nicht mehr abänderbare abgeschlossene Lebenssachverhalte betrachtet werden mußten.
2. Rechtsprechung der Instanzgerichte
Da die soeben dargelegte Rechtslage, wie sie zuletzt mit dem Urteil des OVG Frankfurt/Oder vom 8.6.2000 noch einmal ausdrücklich bestätigt worden war, infolge der damals in Brandenburg allgemein verbreiteten Mangelhaftigkeit kommunaler Anschlußbeitragssatzungen erhebliche Einnahmeausfälle für fast sämtliche Gemeinden auf dem Gebiet des Landes Brandenburg zur Folge gehabt hätte, hat der Landtag des Landes Brandenburg auf Antrag der Landesregierung die Verjährungsregelungen des § 8 VII 2 KAG mit Wirkung vom 1.2.2004 dahingehend abgeändert, daß nunmehr für den Beginn der Festsetzungsverjährung aller an diesem Tage noch nicht durch Veranlagungsbescheide festgesetzten, auf den Grundstücken lastenden sachlichen Anschlußbeiträge abzustellen ist auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ersten rechtlich fehlerfreien und damit wirksamen Anschlußbeitragssatzung. Dabei hat der Gesetzgeber bewußt von einer sich eigentlich aufdrängenden Übergangsregelung im Hinblick auf die am 1.2.2004 nach der alten Rechtslage wegen des Ablaufs der Festsetzungsverjährung verfassungsrechtlich nicht mehr festsetzbaren Beitragsforderungen abgesehen, um auch deren Festsetzung nachträglich wieder zu ermöglichen.
Mit Gesetz vom 2.10.2008[v] hat der Gesetzgeber ergänzend klargestellt, daß vor dem 1.1.2009 noch nicht verjährte Beitragsforderungen frühestens am 31.12.2011 verjähren können. Den amtlichen Begründungen der beiden erwähnten landesrechtlichen Neuregelungen der Verjährungsvorschriften ist die Absicht des Landesgesetzgebers zu entnehmen, den Gemeinden durch diese Neuregelung insbesondere die zeitlich unbegrenzte Möglichkeit zu geben, durch den erstmaligen Erlaß einer rechtlich einwandfreien und damit wirksamen Anschlußbeitragssatzung noch nach dem 31.1.2004 Anschlußbeiträge für die Herstellung von Frisch- und Abwasserkanälen zu erheben, die bereits vor der Wiedervereinigung oder unmittelbar nach der Wiedervereinigung, also mittlerweile vor Jahrzehnten, hergestellt wurden. Diese – bereits im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens offensichtlich mit dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot unvereinbaren – Intentionen des Gesetzgebers sind seither in zahlreichen Entscheidungen der Brandenburgischen Verwaltungsgerichte und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg immer wieder gebilligt und bestätigt worden. Zu diesen Urteilen gehören insbesondere auch die jetzt durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom November 2015 aufgehobenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Cottbus und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg.
Die jetzt aufgehobenen Entscheidungen der Brandenburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit beruhen auf einer unzulässigen Umgehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rückwirkungsverbot („unbegrenzte Auslegung“).
Und zwar hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wie folgt argumentiert: Obwohl die betroffenen Beitragsforderungen zum Zeitpunkt der Geltung der Verjährungsregelung des § 8 VII 2a.F. KAG nicht mehr hätten festgesetzt werden dürfen, stelle die Ermöglichung der nachträglichen Festsetzung durch § 8 VII 2 KAG n.F. keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung dar, weil die vor dem 1.2.2004 geltende Rechtslage keinen „abgeschlossenen Lebenssachverhalt“ im Sinne des Rückwirkungsverbots dargestellt habe, weil auch nach der ursprünglichen Fassung des § 8 VII 2 KAG a.F. vor dem Inkrafttreten einer wirksamen Beitragssatzung rechtlich keine sachliche Beitragspflicht entstanden sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liege eine verfassungswidrige Rückwirkung auf dem Gebiet des Steuerrechts nur dann vor, wenn bereits entstandene Steuerforderungen nachträglich abgeändert würden[vi]. Die auf einer unwirksamen Satzung beruhenden Abgabenforderungen seien aber wegen der Nichtigkeit der damals „geltenden“ Satzungen vor der Gesetzesänderung zum 1.2.2004 rechtlich noch nicht „zur Entstehung gelangt“.
3. Wesentlicher Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat die soeben dargelegte – den Grundgedanken des Rückwirkungsverbots verletzende – Argumentation der Brandenburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit wegen eines Verstoßes gegen das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 III GG) in der Gestalt, welche diese Grundrechte in dem Rückwirkungsverbot gefunden haben, als verfassungswidrig aufgehoben. Danach verstößt ein Gesetz gegen die betroffenen Freiheitsgrundrechte des Bürgers i.V.m. dem Rechtsstaatsgebot, wenn es nachträglich zu Lasten des Bürgers in einen rechtlich abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift[vii].
Den Beschluß vom 12.11.2015 hat die zur Entlastung der beiden Senate gebildete, aus drei seiner Richter gemäß § 15a Bundesverfassungsgerichtsgesetz bestehende zweite Kammer des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 93c I 1 i.V.m. § 93a II b) Bundesverfassungsgerichtsgesetz einstimmig getroffen. Nach den genannten Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes konnte hier die zweite Kammer an Stelle des ansonsten zuständigen ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entscheiden, weil die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits vorher eindeutig durch das Bundesverfassungsgericht entschieden worden war und weil die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet war. Hierin zeigt sich auch, wie eindeutig die zitierte langjährige Rechtsprechung der Brandenburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Grundrechte verstoßen hat. Es hat deutlich gemacht, daß eine „am Wortlaut haftende“ Interpretation des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots unzulässig ist, weil die Grundrechte materielle Wertentscheidungen darstellen, welche alle staatliche Gewalt, auch die Gerichtsbarkeit, absolut binden.
II. Die aus dem Beschluß abzuleitenden unmittelbaren Folgerungen für die juristische Praxis
1. Unmittelbare Folgen
Für die praktische künftige Anwendung des Kommunalabgabengesetzes auf die Frage, wie lange noch Beiträge für bereits vor Jahren fertiggestellte Wasser- und Abwasserkanäle festgesetzt werden können, ergibt sich aus dem Beschluß vom 12.11.2015 folgendes:
Alle gemäß § 8 VII a.F. KAG als verjährt geltenden Anschlußbeiträge, die am 31.1.2004 nicht mehr erhoben werden konnten, dürfen auch heute nicht mehr festgesetzt werden. Auf diese Fälle darf also die am 1.2.2004 in Kraft gesetzte Neufassung des § 8 VII 2 KAG nicht mehr angewendet werden.
Dagegen können nach der hier vertretenen Auslegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 auf einem Grundstück lastende Anschlußbeitragsforderungen, die am 1.2.2004 noch nicht verjährt waren und nach der seitdem geltenden Neuregelung des § 8 VII 2 KAG n.F. bis heute noch nicht verjährt sind, vorerst weiter festgesetzt werden. Nach dieser zur Zeit noch wirksamen Gesetzesfassung beginnt die vier-jährige Festsetzungsverjährung erst am Tage des Inkrafttretens der ersten wirksamen Anschlußbeitragssatzung[viii]. Gemäß § 19 I KAG endet die Festsetzungsverjährung spätestens 15 Jahre nach Fertigstellung der Anschlußkanalisation. Diese Interpretation der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf der Annahme, daß das Bundesverfassungsgericht § 8 VII 2 KAG n.F. nur insoweit für verfassungswidrig erklärt hat, als er ein Wiederaufleben der am 31.1.2004 verjährten Beiträge bezweckt. Allerdings hat die zweite Kammer des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung der Vorschrift offen gelassen. Die Kammer hält die streitgegenständliche, insoweit gegen § 8 VII 2 KAG n.F. gerichtete Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 23 I 2, 92 Bundesverfassungsgerichtsgesetz für unzulässig, weil sie sich nicht mit den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg in seiner Entscheidung vom 16.7.2014[ix] auseinandergesetzt hat. Mit dieser Begründung läßt die zweite Kammer des Bundesverfassungsgerichts die Frage der Verfassungsmäßigkeit und dementsprechend auch der Wirksamkeit des § 8 VII 2 KAG n.F. ausdrücklich offen. Damit läßt die Entscheidung Raum für die folgenden Überlegungen:
Wegen der ihm zugrundeliegenden gesetzgeberischen Intention, eine nachträgliche Festsetzung ursprünglich verjährter Beitragsforderungen zu ermöglichen, könnte § 8 VII 2 n.F. insgesamt gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstoßen und dürfte dann jetzt schon auch auf am 1.2.2004 noch nicht aber ausschließlich nach der alten Rechtslage verjährte Fälle nicht mehr angewendet werden. Stattdessen würde sich dann die Zulässigkeit der nachträglichen Veranlagung länger zurückliegender Wassererschließungen weiterhin nach der vor 2004 geltenden Verjährungsregelung des § 8 VII 2 KAG a.F. richten. Danach wäre auch bei allen nach dem 1.2.2004 ergangenen Bescheiden ausschließlich abzustellen auf denjenigen Zeitpunkt, an welchem eine Anschlußbeitragssatzung nach dem Willen der Gemeinde erstmals in Kraft treten sollte unabhängig davon, ob diese Satzung Rechtsfehler enthält. Diese Auslegung würde allerdings nach der hier vertretenen vorläufigen Auffassung bei späteren Verfassungsbeschwerden letztlich nicht tragfähig sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind nämlich Gesetze, die verfassungsrechtlich „heilbar“ sind oder die verfassungskonform auslegungsfähig sind, nicht für unwirksam zu erklären. Danach könnte zunächst eine verfassungskonforme Auslegung des § 8 VII 2 KAG n.F. möglich sein, wenn man die Vorschrift so interpretieren könnte, daß sie nur auf Sachverhalte Anwendung finden soll, die nicht bereits am 31.1.2004 verjährt waren. Das solle nachfolgend geprüft werden.
2. Kann § 8 VII 2 KAG n.F. (teilweise) weiter angewendet werden?
a)
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden gegen § 8 VII 2 und § 12 IIIa KAG meines Erachtens zu Recht als unzulässig abgewiesen, weil sich die Verfassungsbeschwerden nicht mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob diese Vorschriften nicht deshalb wirksam sind, weil sie in der soeben dargelegten Weise verfassungskonform ausgelegt werden können. Diese Frage hatte das Oberverwaltungsgericht mit Beschluß vom 16.7.2014[x] unter Hinweis auf die gesetzlichen Motive zu § 12 IIIa KAG[xi] bejaht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt, dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen des verfassungsrechtlich zulässigen soweit wie möglich Rechnung zu tragen. Deshalb findet eine verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde[xii]. Eine verfassungskonforme Auslegung, die zwar mit dem Gesetzeswortlaut zu vereinbaren ist, ist deshalb trotzdem da nicht mehr möglich, wo sie über die erkennbare Regelungsabsicht des Gesetzgebers hinweggehen würde. Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen. Die verfassungskonforme Auslegung darf deshalb den in der auszulegenden Gesetzesvorschrift erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecken nicht widersprechen[xiii].
Entscheidend sind also hinsichtlich dieser gesetzgeberischen Wertentscheidungen die Gesetzesmotive, wie sie zu § 8 VII 2 n.F. KAG in LTDrucks 3/6324, Seite 29 f, und hinsichtlich § 12 III a KAG in Drucksache 4/6422 zum Ausdruck kommen.
Die Gesetzesmotive zu § 8 VII 2 KAG in der seit dem 1.2.2004 geltenden Fassung sind allerdings irreführend. Nach den Motiven soll die jetzt für den Beginn der Festsetzungsverjährung maßgebliche Wirksamkeit der Beitragssatzung in erster Linie „künftige Beitragsausfälle bei den Gemeinden“ vermeiden. Darüber hinaus gehen die Gesetzesmotive sogar davon aus, daß die von der Verfassungsbeschwerde betroffenen „Altfälle“ „in der Vergangenheit zu großen Beitragsausfällen“ geführt haben. Dieser gesetzgeberischen Intention würde also eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift, nach welcher vor ihrem Inkrafttreten bereits endgültig unzulässige Veranlagungen weiterhin unzulässig bleiben, nicht widersprechen. Andererseits machen die Gesetzesmotive völlig unmißverständlich deutlich, daß einer der wesentlichen Zwecke der Neuregelung darin besteht, nachträglich die Festsetzung solcher Anschlußbeiträge zu ermöglichen, die unter Berücksichtigung der bis dahin maßgeblichen Auslegung der Vorgängervorschrift durch das Oberverwaltungsgericht als verjährt anzusehen waren. Diese gesetzgeberische Intention läuft aber dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot diametral entgegen. Deshalb kann die Vorschrift, die insoweit bewußt gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gerichtet ist, nicht mehr nachträglich verfassungskonform ausgelegt werden.
Entsprechend sind auch die gesetzgeberischen Zwecke der Novellierung des § 12 IIIa KAG (soweit sie mittelbar § 8 VII 2 KAG n.F. betreffen) zu beurteilen[xiv]. Die Gesetzesbegründung geht insoweit eindeutig von dem Willen des Gesetzgebers aus, mit der Neufassung der Verjährungsregelung in § 12 IIIa KAG insbesondere eine nachträgliche Veranlagung von „Vorteilslagen“ offenzuhalten, welche bereits in den Jahren 1991 bis 1995 bzw. zu „DDR-Zeiten“ verwirklicht waren[xv]. Entscheidend ist allerdings, daß auch diese Gesetzesmotive auf dem gesetzgeberischen Willen beruhen, durch die Novellierung insbesondere auch Veranlagungen für solche Fälle zu ermöglichen, welche nach der ursprünglichen Rechtslage bis zum 31.1.2004 unzulässig und damit rechtlich abgeschlossen waren. Deshalb bin ich der Auffassung, daß eine verfassungskonforme Auslegung nicht zulässig ist, was dazu führt, daß § 8 VII 2 KAG n.F. i.V.m. § 12 IIIa KAG derzeit insgesamt als nicht verfassungsgemäß anzusehen ist.
b)
Gegen die Annahme, die von dem Bundesverfassungsgericht festgestellte Unvereinbarkeit des § 8 VII 2 n.F. KAG mit dem Grundgesetz würde bei unterstellter Zulässigkeit einer hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde zu einer Nichtigerklärung der gesamten Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht gemäß § 78 BVerfGG[xvi] führen, spricht aber der Umstand, daß der Kern der Regelung, nämlich die Anknüpfung des Verjährungsbeginns an eine rechtswirksame Satzung, als solcher nicht verfassungswidrig ist und die völlige Nichtigkeit der Vorschrift eine Bevormundung der gesetzgebenden Gewalt durch die rechtsprechende Gewalt darstellen würde. In derartigen Fällen, in denen der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abzuhelfen unter Beibehaltung des ansonsten verfassungsgemäßen gesetzlichen Regelungszwecks, beläßt es das Bundesverfassungsgericht bei der Unvereinbarkeitserklärung verbunden mit einer Frist, innerhalb derer der Gesetzgeber verpflichtet ist, unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Verfassungsverstoß zu beseitigen[xvii].
Da wie gesagt hier mehrere Möglichkeiten bestehen, unter Beibehaltung der Anknüpfung des Verjährungsbeginns an das Inkrafttreten der ersten rechtswirksamen Satzung für diejenigen Fallgruppen, die am 1.2.2004 noch nicht rechtlich abgeschlossen waren, verfassungskonforme Regelungen zu schaffen, kann nicht davon ausgegangen werden, daß § 8 VII 2 KAG n.F. zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichtig ist. Vielmehr dürfte dem Gesetzgeber eine kurze Frist zur Heilung der mit dem Grundgesetz zur Zeit nicht vereinbaren Regelung verbleiben, die er nutzen sollte. Eine verfassungskonforme Neuregelung dieser Vorschrift würde „automatisch“ auch zu einer rückwirkenden Heilung des § 12 III a KAG führen.
3. Weitere praktische Schlußfolgerungen
a)
Wegen der Folgen der hier besprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht einerseits fest, daß die am 1.2.2004 verjährten Anschlußbeitragsansprüche trotz der rückwirkenden Änderung der Verjährungsvorschrift des § 8 VII 2 KAG neuer Fassung nicht mehr durch Festsetzungsbescheid gegenüber den Beitragsschuldnern veranlagt werden dürfen, weil das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß die sich auf den Zeitraum vor der Gesetzesänderung am 1.2.2004 erstreckende Rückwirkung der Neuregelung des § 8 VII 2 KAG verfassungswidrig ist. Deshalb sind alle Bescheide, die seit dem 1.2.2004 zu diesem Zeitpunkt nach der alten Rechtslage verjährte Beitragsforderungen dennoch festgesetzt haben, rechtswidrig. Soweit Rechtsmittel gegen diese rechtswidrigen Bescheide vor Eintritt der Bestandskraft, also vor Ablauf der Rechtsmittelfrist der §§ 70, 74 VwGO, eingelegt worden sind, müssen diese Bescheide aufgehoben werden und können die Adressaten der Bescheide Rückzahlung hierauf gezahlter Beiträge fordern.
Soweit aber gegen die aus den oben genannten Gründen rechtswidrigen, nach dem 1.2.2004 ergangenen Festsetzungsbescheide keine Rechtsmittel innerhalb der Rechtsmittelfrist eingelegt wurden, sodaß die sogenannte Präklusionswirkung in Folge des Eintritts der Bestandskraft greift, bleiben diese rechtswidrigen Bescheide vollstreckbar. Hierauf erfolgte Zahlungen können nicht zurückverlangt werden. Dieses Ergebnis beruht auf der Erwägung, daß das Bundesverfassungsgericht bisher die gesetzliche Grundlage der Bescheide, also die Neuregelung des § 8 VII 2 KAG, welche am 1.2.2004 rückwirkend in Kraft getreten ist, nicht für nichtig erklärt hat. Diese Rechtsfolge ergibt sich aus § 95 III 3 in Verbindung mit § 79 BVerfGG. Danach bleiben die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, „unberührt“. Allerdings ist die Vollstreckung aus diesen Entscheidungen unzulässig. Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind ebenfalls ausgeschlossen.
Hieraus ergibt sich außerdem, daß im Umkehrschluß trotz der von dem Verfassungsgericht[xviii] festgestellten teilweisen Verfassungswidrigkeit des § 8 VII 2 KAG n.F. rechtswidrige aber bestandskräftig gewordene Bescheide bisher weiterhin vollstreckbar bleiben und hierauf geleistete Zahlungen nicht zurückzuerstatten sind. Selbst dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit dieser Norm ausdrücklich nach § 78 BVerfGG feststellen sollte, könnten auf bestandskräftige Bescheide geleistete Zahlungen nicht zurückgefordert werden. Lediglich Vollstreckungen aus derartigen Entscheidungen würden erst unter dieser Voraussetzung unzulässig werden.
b)
Aber auch diejenigen Grundstückeigentümer, welche von rechtswidrigen, gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2015 verstoßenden, bestandskräftig gewordenen Beitragsbescheiden betroffen sind, bleiben nicht rechtlos. Vielmehr sollten diese bei der Beitrags-Behörde gemäß §§ 51 V, 48 und 49 VwVfG, 130 AO beantragen, das Beitragsverfahren wiederaufzugreifen.
Bei den – im Beitragsverfahren gemäß § 130 AO nicht anwendbaren – „Wiederaufgreifensgründen“ des § 51 I VwVfG handelt es sich um das sogenannte „Wiederaufgreifen im engeren Sinne“. Dagegen ergibt sich aber aus der gesetzlichen Regelung des § 51 V i.V.m. mit den Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte[xix], daß die zuständige Behörde jederzeit die Möglichkeit hat, auf der Grundlage einer entsprechenden Ermessensausübung einen belastenden rechtmäßigen Verwaltungsakt aufzuheben und in diesem Zusammenhang das bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren, welches dem belastenden Verwaltungsakt zugrunde lag, wiederaufzugreifen[xx]. Im Falle dieses sogenannten „Wiederaufgreifens im weiteren Sinne“ ( § 130 AO) entscheidet die Behörde über den Antrag auf Wiederaufgreifen nach pflichtgemäßen Ermessen, dem nach der soeben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung entspricht. Auch diese Verfahren werden als Wiederaufgreifen bezeichnet, obwohl es insoweit nur um die ermessensgerechte Ausübung des Rechts aus §§ 48 I Satz 1, 49 I VwVfG geht. Erforderlich, aber auch ausreichend für einen solchen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung sind lediglich der entsprechende Antrag und die Beschwer des Betroffenen durch den unanfechtbaren Verwaltungsakt. Antragsbefugt ist der materiell durch den Verwaltungsakt belastete Betroffene. Die Ablehnung des Wiederaufgreifens ist als Verwaltungsakt auf Ermessensfehler gerichtlich überprüfbar[xxi].
Es ist höchstrichterlich anerkannt, daß in diesem Zusammenhang ein Rechtsanspruch besteht, daß dem Antrag, das Verfahren wieder aufzugreifen, stattzugeben ist, wenn „in besonders gelagerten Fällen eine Ermessensverdichtung auf Null vorliegt“. Das soll nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1994 dann der Fall sein, wenn die Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Bescheides schlechthin unerträglich wäre, etwa in Fällen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit oder eines Verstoßes gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben[xxii]. Der Verfasser ist der Auffassung, daß man mit guten Gründen vertreten kann, die fraglichen Fälle der rechtswidrigen Veranlagung verstießen gegen Treu und Glauben, weil der hier in Rede stehende Verfassungsverstoß einerseits ausweislich der Entscheidungsbegründung[xxiii] offensichtlich ist und andererseits im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu der in ihren rückwirkenden Folgen jedenfalls verfassungswidrigen Neuregelung des § 8 VII 2 n.F. KAG mehrere namhafte Rechtswissenschaftler den Gesetzgeber ausdrücklich auf die Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden Regelungsfolgen dieser Novellierung hingewiesen hatten. Die gegenteilige Ansicht ist aber auch vertretbar.
Dr. Robbert
[i] VG 6 K 1076/12und VG 6 K 1033/09
[ii] OVG 9 N 40.14 und OVG 9 B 35.12
[iii] vgl. § 2 I KAG
[iv] so auch: Urteil des OVG Frankfurt/Oder vom 8.6.2000, 2 D 29/98.NE
[v] GVBl I Seite 218
[vi] unter Berufung auf: BVerfGE 127, 1, 18 f.
[vii] sogenannte „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“, BVerfGE 132, 302, 318
[viii] da es sich um eine sogenannte „Ultimoverjährung“ handelt, wird der Fristbeginn jeweils auf den 1. Januar des Folgejahres verlegt, § 169 f AO
[ix] OVG 9 N 69.14
[x] OVG 9 N 69.14
[xi] LTDrucks 4/6422
[xii] zuletzt: Beschluß vom 28.7.2015, 2 BvR 2558/14, RN 46
[xiii] Beschluß vom 11.6.1980, 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277, RN 56
[xiv] Drucksache 4/6422
[xv] unter Hinweis auf OVG Frankfurt/Oder vom 5.12.2001, 2 A 611/00
[xvi] Bundesverfassungsgerichtsgesetz
[xvii] BVerfGE 28, 324; BVerfGE 39, 316, 332 f.; 77, 308, 337; 84, 168
[xviii] 1 BvR 2961/14
[xix] §§ 48, 49 VwVfG; entspricht im Abgabenrecht § 130 AO
[xx] BVerwGE 28, 125; 39, 231; 44, 333, 334; BVerwG NJW 1976, 340, 341; NJW 1981, 25, 95; NVwZ 1985, 225
[xxi]Stelkens/Sachs, VwVfG, 3. Auflage 1990, § 51, RN 12
[xxii] BVerwG vom 27.1.1994, BVerwGE 95, 86, 92
[xxiii] 1 BvR 2961/14