Die erfreuliche Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.1.2004 hat in der Bundesrepublik Deutschland erhebliches Aufsehen verursacht, aber auch viele Zweifel über ihre praktischen Auswirkungen. Hiermit befaßt sich dieser Beitrag.
Um etwas Licht in das Dunkel zu bringen, sollen hier zunächst Anmerkungen zur Vorgeschichte gemacht werden, dann zum Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum innerstaatlichen deutschen Recht und anschließend zu den Entscheidungsgründen und den Auswirkungen des Urteils.
I.
Die Entscheidung des Gerichts betrifft ausschließlich diejenigen Erben von früheren Begünstigten der Bodenreform, denen nach 1945 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone aus dem staatlichen Bodenfond durchschnittlich acht-Hektar-große Landparzellen zugeteilt worden waren (sogenannte „Neubauern“), wobei es in dem Urteil des Gerichtshofs nur um diejenigen Erben geht, die selber nie in der Landwirtschaft der DDR gearbeitet haben. Nach den im Jahre 1992 erlassenen Bestimmungen der Artikel 233 §§ 11 und 12 EGBGB ist diese Gruppe von Erben von Bodenreformgrundstücken verpflichtet, dieses Land an den „Besser-Berechtigten“ unentgeltlich zu übereignen. Das Urteil betrifft von dieser Personengruppe jedoch wieder nur diejenigen Erben, denen gegenüber als „Besser-Berechtigter“ (sog. „Zuteilungsberechtigter“) das Land auftritt.
Die Bodenreformverordnungen der DDR sahen vor, daß Bodenreformland von den Neubauern weder geteilt, noch verkauft, noch vermietet werden konnte und daß sie einen Teil der Ernte dem Staat abtreten mußten. Die Verordnungen sahen allerdings Ausnahmen für den Fall vor, daß die örtlichen Räte damit einverstanden waren. Außerdem sahen die Verordnungen die Vererbbarkeit des Bodenreformgrundstückes vor. Nach den sogenannten Besitzwechselverordnungen der DDR war vorgesehen, daß solches Land an den Bodenfond zurückfallen sollte, wenn der Neubauer bzw. sein Erbe nicht mehr in der Landwirtschaft tätig war. Dieser Rückfall an den Bodenfond trat nach diesen Bestimmungen jedoch nicht automatisch ein. Vielmehr mußte der örtliche Rat zu diesem Zwecke aktiv werden. Tatsächlich haben jedoch die DDR-Behörden in den hier fraglichen Fällen von den Bestimmungen über den Rückfall an den Bodenfond keinen Gebrauch gemacht.
Durch Gesetz vom 6. März 1990 über „die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform“ bestimmte die erste frei gewählte Volkskammer, daß sämtliche in den Bodenreformverordnungen bzw. Besitzwechselverordnungen der DDR bestimmten Verfügungsbeschränkungen aufgehoben seien und damit die Eigentümer der Bodenreformgrundstücke unbeschränkt Eigentum an den letzteren erwerben sollten. Diese Bestimmung galt nach ihrem Wortlaut uneingeschränkt, also auch für die Erben, die nach der deutschen Rechtstradition kraft Gesetzes in die Rechtsstellung des Erblassers mit dessen Tode einrücken.
Die Beschwerdeführer betrachten die Regelungen des Artikels 233 §§ 11 und 12 EGBGB als eine durch Artikel 1 Nummer 1 des Protokolls der Konventionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbotene „entschädigungslose Enteignung“.
Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht hatten dagegen diese Regelungen für vereinbar mit der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Grundgesetz erklärt, mit folgender Begründung:
Die Regelungen des Artikels 233 §§ 11 und 12 EGBGB stellten deshalb keinen unzulässigen Eingriff in die Rechtsstellung der Beschwerdeführer dar, weil es sich bei ihnen lediglich um eine „korrigierende Auslegung“ des DDR-Gesetzes vom 6.3.1990 handeln würde. Der Zweck dieses Gesetzes habe lediglich darin bestanden, die DDR-Landwirtschaft in die freie Marktwirtschaft zu überführen und zu diesem Zwecke sei es im März 1990 notwendig gewesen, die damals noch landwirtschaftlich genutzten Flächen in „Volleigentum“ im Sinne des bürgerlichen Rechts umzuwandeln. Wenn der Wortlaut des Gesetzes vom 6.3.1990 auch die nicht landwirtschaftlich tätigen Erben von Neubauern aus der Zeit der Bodenreform begünstige, dann handele es sich insoweit um ein „Redaktionsversehen“ der Volkskammer. Aus dem Zusammenhang des Gesetzes vom 6.3.1990 mit den vorher geltenden Bestimmungen der DDR über Bodenreformgrundstücke, insbesondere den Besitzwechselverordnungen ergebe sich, daß die nicht landwirtschaftlich tätigen Erben von Bodenreformgrundstücken diese bei richtiger Anwendung des früheren DDR-Rechts an den Bodenfond zurück hätten zurück geben müssen. Dies sei auch Ziel des Gesetzes vom 6.3.1990 gewesen. Die nach der Wiedervereinigung erlassenen Artikel 233 §§ 11 und 12 EGBGB hätten also insoweit nur „klarstellenden Charakter“ im Rahmen der „Umstellung“ in die freiheitliche Rechtsordnung und stellten deshalb keine entschädigungslose Enteignung des betroffenen Personenkreises dar (BVerfG, Urteil vom 6.10.2000, AZ: 1 BvR 1637/99).
II.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seinen Sitz in Straßburg/Elsaß. Dieses Gericht darf nicht mit den EU-Gerichten verwechselt werden, welche in Luxemburg ansässig sind.
Der Gerichtshof wurde errichtet auf Grund der am 4.11.1950 von den Mitgliedsstaaten des Europarats, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland zählt, unterzeichneten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Durch das Protokoll Nummer 11 vom 11.5.1994, das durch Bundesgesetz vom 24.7.1995 in innerstaatliches deutsches Recht umgesetzt worden ist, ist ein ständiger „Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte“ errichtet worden, deren Mitgliederzahl der Zahl der Vertragsstaaten (zur Zeit 40) entspricht. Der Gerichtshof tagt in Ausschüssen mit 3, in Kammern mit 7 und in der Großen Kammer mit 17 Richtern (Artikel 27). Die Ausschüsse können durch einstimmigen Beschluß eine Individualbeschwerde für unzulässig erklären, ansonsten entscheidet darüber eine Kammer. Bedeutende Sachen kann die Kammer an die Große Kammer abgeben (Artikel 30). Der Gerichtshof kann von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe die behauptet, durch einen Vertragsstaat in einem in der Konvention anerkannten Recht verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befaßt werden (Artikel 34). Der Gerichtshof darf sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe befassen. Er soll auf eine gütliche Einigung hinwirken. Erst wenn diese nicht möglich ist, spricht der Gerichtshof bei Feststellung einer Verletzung der Konvention unter bestimmten Vorraussetzungen dem Beschwerdeführer eine „gerechte Entschädigung“ zu (Artikel 41). Gegen Urteile der Kammern kann in Ausnahmefällen innerhalb von 3 Monaten die Verweisung an die große Kommission beantragt werden. Ein Ausschuß dieser Kammer nimmt den Antrag an, wenn die Sache „schwerwiegende Fragen“ aufwirft (Artikel 43).
III.
Die Vertragsstaaten des Protokolls Nummer 11 der Menschenrechtskommission haben sich verpflichtet, endgültige Urteile des Straßburger Gerichtshofs zu befolgen (Artikel 46).
In seiner Entscheidung vom 22.1.2004 hat die 3. Kammer des Straßburger Gerichtshofs in dem Fall Jahn und andere ./. Deutschland (AZ: 46720/99 etc.) festgestellt, daß die Verpflichtung von Neubauer-Erben, ehemalige Bodenreform-Grundstücke, die am 6.3.1990 in ihrem Eigentum standen, unentgeltlich an den Staat gemäß Artikel 233 § 11 III in Verbindung mit Artikel 233 § 12 II Ziff. 2 c) und III EGBGB zu übertragen, gegen Artikel 1 des Protokolls Nummer 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstößt (Wortlaut: „Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf friedlichen Gebrauch seines Eigentums. Niemand darf seines Eigentums verlustig gehen, es sei denn, es läge ein öffentliches Interesse vor, wobei die Enteignung den innerstaatlichen Gesetzen entsprechen muß und den allgemeinen Grundsätzen des internationalen Rechts.“). In Übereinstimmung mit westeuropäischen Auffassungen schließt sich der Gerichtshof der Auffassung an, daß das Völkerrecht entschädigungslose Enteignungen untersagt. Das Gericht verwirft dann die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, wonach die Volkskammer mit dem Gesetz vom 6.3.1990 nur solches Bodenreformland zu vollgültigem Privateigentum umwandeln wollte, das sich in der Hand ehemaliger oder gegenwärtiger Berufstätiger aus der Landwirtschaft befindet. Es ist vielmehr der Auffassung, daß das Volkskammergesetz ausnahmslos alle formalen Eigentümer von ehemaligem Bodenreformland zu Volleigentümern machen wollte. Deswegen habe die Bundesrepublik mit den genannten Überleitungsvorschriften des Artikel 233 §§ 11 und 12 EGBGB gegen das Völkerrecht verstoßen.
Weiter hat das Gericht festgestellt, daß die Frage, ob Artikel 41 der Konvention Anwendung finde, noch nicht entscheidungsreif sei (Artikel 41: „Wenn das Gericht feststellt, daß eine Verletzung der Konvention oder des Protokolls hierzu vorliegt, und wenn das innerstaatliche Recht einer Hohen Vertragsschließenden Partei nur eine anteilige Entschädigung vorsieht, kann das Gericht notfalls auf eine gerechte Wiedergutmachung zugunsten der klagenden Partei zuerkennen.“).
Vielmehr hat das Gericht die Parteien des Rechtsstreits zunächst gebeten, innerhalb der nächsten sechs Monate zu dem Urteil schriftlich Stellung zu nehmen und insbesondere dem Gerichtshof mitzuteilen, ob sie sich gütlich geeinigt haben. Für die Zeit nach Ablauf dieser Frist hat sich das Gericht vorbehalten, das Verfahren fortzusetzen.
Infolge der Transformation der Bestimmungen des Protokolls Nr. 11 durch Bundesgesetz vom 24.7.1995 (BGBl II 578), insbesondere dessen Artikel 46, sind alle staatlichen Stellen an die Entscheidung des Gerichtshofs gebunden und müssen diese bei ihrer Arbeit beachten, sofern die Entscheidung „endgültig“ geworden ist. Letzteres ist bisher nicht der Fall.
Zu beachten ist auch, daß die Entscheidung des Straßburger Gerichts unmittelbare Rechtswirkungen nur zwischen den Parteien des konkreten Rechtsstreits hat. Insofern können sich andere „geschädigte“ Erben von Bodenreformgrundstücken zur Zeit nur mittelbar auf die Entscheidung des Gerichtshofs berufen, sofern diese innerhalb der Drei-Monats-Frist nicht von der Bundesrepublik Deutschland angefochten werden sollte bzw. dieses Rechtsmittel der Bundesrepublik Deutschland zurückgewiesen werden sollte.
Auch im letzteren Fall blieben zunächst Verfügungen der Bodenreform-Erben über betroffene Grundstücke zugunsten der Länder wirksam, auch sonstige Verwaltungsentscheidungen bzw. gerichtliche Urteile blieben in kraft. Allerdings muß aufgrund der Regelung des Artikel 46 der Menschenrechtskonvention davon ausgegangen werden, daß alle staatlichen Stellen im Falle der Endgültigkeit der Entscheidung von der Völkerrechtswidrigkeit und damit Nichtigkeit des Artikel 233 §§ 11 und 12 EGBGB, soweit sie die hier besprochene unentgeltliche Übereignungspflicht betreffen, auszugehen hätten. Mithin können heute schon sämtliche Auflassungserklärungen zugunsten eines Bundeslandes von den Erben des Bodenreformlandes wegen Irrtums nach § 119 BGB vorsorglich angefochten werden, sonstige rechtskräftige Entscheidungen in dieser Sache können nach „Endgültigkeit“ des Straßburger Urteils nach den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens innerhalb der Monatsfrist auf Antrag wieder aufgerollt werden.
Die Bundesrepublik hat jedoch die Möglichkeit, durch Einführung einer Entschädigungsregelung die genannten Vorschriften in Artikel 233 §§ 11 und 12 EGBGB zu „heilen“. Ob sich die Bundesrepublik für eine Entschädigungsregelung oder für die Rückgabe der betroffenen Bodenflächen an die Neubauer-Erben entscheidet, ist zur Zeit völlig offen. Ein dringender Handlungsbedarf besteht für die Betroffenen derzeit nicht. Sie können zur Zeit abwarten, ob die Bundesrepublik innerhalb der Drei-Monats-Frist gemäß Artikel 43 der Konvention eine Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofs beantragen wird.
Rechtsanwalt
Dr. Jens Robbert